Qualitätskriterien für die Prozessbegleitung mit minderjährigen Opfern und Zeug*innen von häuslicher Gewalt
In den letzten Jahren hat die Prozessbegleitung für Kinder und Jugendliche bei häuslicher Gewalt an Bedeutung gewonnen (etwa durch die gesetzliche Gewährung von Prozessbegleitung für minderjährige Zeug*innen von Gewalt im sozialen Nahraum).
Kinder und Jugendliche stellen aus zwei Gründen eine besonders vulnerable Opfergruppe bei häuslicher Gewalt dar:
- Zum einen werden ihre tatsächliche Betroffenheit (eigene Gewalterfahrung) und ihre psychische Belastung häufig unterschätzt, wenn ihnen kein geschützter Raum gegeben wird, um darüber sprechen zu können.
- Zum anderen wird häufig nicht gesehen, in welche inneren Konflikte Kinder durch Gewalt unter nahestehenden Personen gebracht werden (Loyalitäts-, Schuldkonflikte,…).
Daher ist es wichtig, dafür Sorge zu tragen, dass betroffene Minderjährige psychosoziale und juristische Prozessbegleitung erhalten, die auf ihre Bedürfnisse ausgerichtet und am Kindeswohl orientiert ist.
Qualifikation der psychosozialen Prozessbegleiter*innen
- Abschluss in Sozialer Arbeit, Klinische*r Psycholog*in oder Psychotherapeut*in (nach Möglichkeit mit Zusatzqualifikation für Kinder/Jugendliche)
- Mehrjährige berufliche Erfahrung in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen
- Gute Vernetzung im Kinder- und Jugendbereich und Kenntnisse über weitere kinderspezifische Interventionen (Kinderschutz, Kinderbeistand, Vermittlung von Psychotherapie o.ä.)
- Spezifische Kenntnisse in Psychotraumatologie und der Stabilisierung von Kindern und Jugendlichen
- Die*der Prozessbegleiter*in ist neben der Prozessbegleitung auch in weiteren Bereichen der Kinderschutzarbeit tätig (z.B. Beratung, Psychotherapie).
Institutionelle Rahmenbedingungen
- Die Einrichtung ist private Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung nach B-KJHG oder erfüllt die Kriterien.
- Die Einrichtung verfügt über ein Kinderschutzkonzept.
- Kindgerechte Räumlichkeiten; räumlich getrennte Beratung für Kind und Bezugsperson kann gewährleistet werden.
- Autonome Fallführung der Prozessbegleitung und Interventionsplanung für das Kind bzw. die Kinder (z.B. Betreuende*r der Mutter kann nicht fallführend für das Kind bzw. die Kinder sein).
- Mindestens zwei qualifizierte Mitarbeiter*innen stehen für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen zur Verfügung, sodass eine Arbeit im Team und gegenseitige Intervision möglich sind.
- Das Kind erhält eine*n eigene*n psychosoziale*n Prozessbegleiter*in (eine andere Fachkraft als für die*den gewaltbetroffene*n Angehörige*n), bei mehreren Geschwisterkindern können auch mehrere psychosoziale Prozessbegleiter*innen zur Verfügung gestellt werden.
- Bei Bedarf muss juristische Prozessbegleitung für das Kind möglich sein (in der Regel durch eine andere juristische Prozessbegleitung als die der*des gewaltbetroffenen Angehörigen).
- Notwendige Leistungen im Rahmen der Prozessbegleitung, die nicht im Leistungskatalog des „Handbuchs Prozessbegleitung“ erfasst sind, werden von der Einrichtung getragen.
- Es ist gewährleistet, dass die Einrichtung die Prozessbegleitung von vor Beginn der Anzeige bis zum rechtskräftigen Ende des Verfahrens sicherstellen kann. Ebenso kann die Einrichtung gewährleisten, dass das Kind mit seinen Bezugspersonen auch nach Abschluss der Prozessbegleitung in der Einrichtung weiterbetreut werden kann (Beratung, Psychotherapie, Besuchsbegleitung), wenn das fachlich erforderlich ist.
Inhaltliche Qualitätskriterien
- Im Mittelpunkt der Arbeit stehen ausschließlich das Wohl und die Bedürfnisse des Kindes.
- Das Kind muss die Prozessbegleitung als geschützten Raum erleben können: Eventuelle Rollenkonflikte zwischen der Tätigkeit als Prozessbegleiter*in und anderen Aufgaben (Therapie, Betreuung,…) sowie institutionsbezogene Konflikte für das Kind (z.B. wenn die Prozessbegleitungs-einrichtung gleichzeitig temporäres „Zuhause“ des Kindes ist oder das Kind als „Dolmetsch“ für einen Elternteil benötigt wird) werden bei der Auswahl der Prozessbegleitungseinrichtung berücksichtigt.
- Prozessbegleitung mit Kindern und Jugendlichen umfasst weit mehr als die kindgerechte Information über Abläufe bei Gericht und die Begleitung zu Einvernahmen. Damit Kinder durch die Prozessbegleitung entlastet werden können, muss ein Betreuungsprozess initiiert werden, in dem Kinder ihre Bedürfnisse, Gefühle, Ängste und Sorgen zum Ausdruck bringen können. Dies erfordert in der Regel jeweils mehrere Termine vor und nach Befragungen und Einvernahmen, im weiteren Prozessverlauf sowie vor und nach dem Ende des Strafverfahrens.
- Es steht ausreichend Zeit für den Beziehungsaufbau und die Aufrechterhaltung der Arbeitsbeziehung mit dem Kind zur Verfügung.
- Die Fallführung und die Planung weiterer Interventionen erfolgen kindzentriert. Bei allfälligen Kontakt- und Obsorgefragen wird ausschließlich nach dem Kindeswohl entschieden; der Wille des Kindes ist zu berücksichtigen, sofern er nicht kindeswohlgefährdend ist.
- Den Bedürfnissen männlicher Kinder/Jugendlicher wird hinreichend Rechnung getragen.
- Die Arbeit mit dem Bezugssystem erfolgt kindzentriert begleitend zur Arbeit mit dem Kind. Grundsatz ist auch hier das Kindeswohlvorrangigkeitsprinzip. Die Notwendigkeit von guten inneren Beziehungen zu beiden Elternteilen für die kindliche Entwicklung ist zu berücksichtigen. Wenn der Vater nicht gewaltausübend ist, ist er als Bezugsperson des Kindes in die Arbeit miteinzubeziehen (besonders, wenn er obsorgeberechtigt ist). Wenn die Mutter gewaltausübend ist oder aufgrund eigener Belastungen und Traumatisierungen nicht im Sinne des Kindeswohls handeln kann, sind allfällige Maßnahmen (Gefährdungsmeldung an die Kinder- und Jugendhilfe, Kollisionskurator) zu setzen.
- Die Beratung des Bezugssystem des Kindes in Hinblick auf die Sicherung des Kindeswohls muss gegebenenfalls auch unabhängig von der Prozessbegleitung möglich sein.
- Grundprinzip der Arbeit mit dem Bezugssystem ist: Wie können die Bezugspersonen die Bedürfnisse des Kindes erkennen und das Kind trotz allfälliger eigener (Gewalt-)Belastungen unterstützen?